„Der Verein „Chefs lesen Kindern vor“ bringt Grundschulkinder mit echten Chefs zusammen. So sollen Kinder lernen, dass Chefs nicht nur Befehle geben und Leute rausschmeißen. Auch die Führungskräfte profitieren.
Der neunjährige Sascha hat eine klare Vorstellung davon, wie der Alltag eines Unternehmenschefs aussieht: „Der Chef gibt Befehle, und wenn etwas schief läuft, ist er sauer.“ Thorsten Streppelhoff versteht seinen Job als Vorstandsmitglied für Vertrieb beim Ahrensburger Stiftehersteller Edding allerdings etwas anders: „Ein Chef gibt keine Befehle, das macht man beim Militär. Bei uns muss man reden mit den Mitarbeitern, damit das Unternehmen gut läuft.“
Streppelhoff hat heute einen ungewöhnlichen Termin im Kalender stehen: Er bekommt Besuch von sechs Kindern aus der dritten Klasse der Grundschule Islandstraße in Hamburg. Und er soll ihnen etwas vorlesen, eine halbe Stunde lang, ob aus dem Geschäftsbericht oder einem Märchenbuch, das ist ganz ihm überlassen.
Streppelhoff hat sich, obwohl als Vater einer vierjährigen Tochter eigentlich selbst Fachmann für Kinderliteratur, von seiner Kollegin Patricia Siebel beraten lassen. Die Managementbeauftragte für Umwelt und Soziales bei Edding hat nämlich eine Tochter, die Buchhändlerin ist. Und die empfahl das Buch „Arthur Unsichtbar und der Schrecken von Thorblefort Castle“, in dem es um einen kleinen Geist geht, der sich einfach nicht entscheiden kann, welche Art von Geist er werden soll. Guter Stoff, um sechs Kinder eine halbe Stunde lang in den Bann zu schlagen, aber Streppelhoff schafft es grade mal, den Klappentext vorzulesen, da ist die halbe Stunde auch schon rum.
Kinder zum Chef-Werden ermutigen
Macht aber nichts, denn das Ziel, um das es bei diesem Termin ging, hat er schon zuvor erreicht. Streppelhoff hat aufmerksam zugehört und geduldig Fragen beantwortet: Wie die Stifte hergestellt werden, warum er ein Fan des Fußballvereins St. Pauli ist. Auf diese Weise, sagt Streppelhoff, merken die Kinder so ganz nebenbei, dass Chefs gar nicht dem Klischee vom bösen Befehlsgeber entsprechen müssen.
Wichtig auch, sagt er, gerade für Jungs aus muslimischen Familien, dass sie auf diese Weise erleben, dass auch Frauen Chefinnen sein können. Denn parallel zu seinem Termin liest auch die Edding-Führungskraft Patricia Siebel den Schulkindern vor.
„Wenn wir nur zwei oder drei Kinder ermutigt haben, einmal Chef oder Chefin werden zu wollen, haben wir schon etwas erreicht“, sagt Streppelhoff. Er hat schon mehrere Vorlesetermine absolviert und ist immer wieder erschüttert über das merkwürdige Chef-Bild, das viele Kinder haben. „Ein Chef ist dazu da, um Leute zu feuern“, meinte beim letzten Mal ein Schüler. Ein Zerrbild, das nach Streppelhoffs Ansicht noch in vielerlei Kinderköpfen herumgeistert, transportiert etwa durch TV-Serien, mutmaßlich aber auch durch Erlebnisse und Erzählungen in den Familien zuhause.
Die Idee, diesem Zerrbild einen Blick in die tatsächlichen Chefbüros entgegenzuhalten, hautnahe Begegnungen mit echten Chefs und Chefinnen zu ermöglichen, hatte der Führungskräftecoach Dirk Brandt vor acht Jahren. Der gebürtige Holsteiner stieg nach dem Abitur erst in die familieneigene Bäckerei ein und leitete nach der Meisterprüfung den Betrieb mit rund 30 Angestellten. Im Alter von 27 Jahren verließ er die Backstube jedoch wieder, um BWL zu studieren, danach arbeitete er als Unternehmensberater.
Auch die Chefs profitieren
Den Anstoß zum Projekt „Chefs lesen Kindern vor“ gab ihm einst sein Patensohn. Brandt bekam mit, wie dessen Mutter ihn motivieren wollte, die Hausaufgaben zu machen. „Lernen ist wichtig für dich, damit du später mal einen guten Job bekommst“, sagte sie. Darauf entgegnete der Junge: „Arbeiten bringt doch sowieso keinen Spaß.“ Das habe er im Fernsehen gehört.
Da wurde Brandt klar, dass Kinder über die Medien und oft auch über die Eltern selten etwas Positives von der Arbeitswelt und der Wirtschaft mitbekommen. Um das zu ändern, gründete er den Verein „Chefs lesen Kindern vor e.V.“, den inzwischen eine Reihe von Unternehmen wie Edding und die Hamburger Sparkasse fördern, die in der Regel 5000 Euro spenden und dafür ein paar Mal im Jahr Besuch von Kindern aus der dritten oder vierten Grundschulklasse bekommen, organisiert von Dirk Brandt.
Der Coach ist überzeugt, dass auch die Chefs bei diesen Begegnungen eine Menge lernen können. „Die Chefs müssen bei diesen Treffen spontan und authentisch sein, das stärkt ihren Sinn für Empathie. Und davon profitieren dann auch ihre eigenen Mitarbeiter.“ Edding-Vorstand Streppelhoff jedenfalls sieht die Treffen mit den Kindern als echte Bereicherung für seinen Chef-Alltag: „Das Vorlesen ist wie ein Seminar, bei dem ja auch meist denkt, dass man eigentlich keine Zeit dafür hat. Wenn man’s dann aber gemacht hat, merkt man immer, dass es einem richtig gut getan hat.“
Der Verein „Chefs lesen Kindern vor“ bringt Schulkinder und Chefs zusammen. Kinder der dritten und vierten Grundschulklasse besuchen Führungskräfte in deren Büros. Bei den jeweils halbstündigen Treffen lesen die Chefs einer kleinen Gruppe von vier bis sechs Schülern aus einem Buch ihrer Wahl vor. Durch diese Begegnungen sollen die acht bis zehn Jahre alten Kinder erkennen, dass Chefs ganz normale Menschen sind und einen kleinen Einblick in deren Berufsalltag bekommen. Die Chefs können bei diesen Treffen lernen, spontan und einfühlsam zu sein und ihren Sinn für Empathie zu schärfen. Im Idealfall profitieren davon dann auch ihre Mitarbeiter.“